NOVEMBER 1918 * 1989
Revolution in Deutschland
Die Revolution ist kein Schandfleck. Sie war – besonders nach vier Jahren Hunger und Ausblutung – eine Ruhmestat. Ein Schandfleck ist der Verrat, der an ihr geübt wurde. Die Völker, die eine grosse Revolution durchgestanden haben, blicken mit Stolz auf sie zurück; und jede siegreiche Revolution hat das Volk, das sie zustande brachte, fur eine Weile groß gemacht: Holland und England im siebzehnten Jahrhundert ebenso wie Amerika und Frankreich im achtzehnten und neunzehnten und Rußland und China im zwanzigsten. Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen. Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute.
Sebastian Haffner
Das Ensemble
Eine Koproduktion des Theaters der Klänge mit dem Bauhaus Dessau. Besetzung der Uraufführung am 30. Oktober 1991 im Theaterhaus Düsseldorf
Darsteller (Tanz + Schauspiel):
Ricardo Bittencourt, Deda, Christina Colonna, Sylvie Coquillat, Clemente Fernandez, Jacqueline Fischer, Kerstin Hörner, Jörg U. Lensing, Maria-Jesus Lorrio de Castro, Kai Mönnich, Heiko Seidel, Ismini Sofou,
Musik / Komposition:
Thomas Neuhaus in Zusammenarbeit mit Olaf Normann und Jens Frantzen
Schlagzeug: Olaf Normann, Jens Frantzen
Film: Sascha Hardt
Diaprojektionen / Schrifttafeln: Ernst Merheim
Lichtgestaltung: Bernd Lohmann, Sascha Hardt
Masken: Erhard Stiefel, Claudia Lemmer, Nathalie Cohen
Kostüme: Kerstin Uebachs
Ensemble-Uniformen: Birgit Kirstein
Figurinen: Tinus Alsdorf, Udo Lensing nach Entwürfen von George Grosz
Puppen: Norika Nienstedt
Bühnenentwurf: Jürgen Steger
Bühnenbau: Jürgen Steger, Tinus Alsdorf
Inszenierung: Jörg U. Lensing
Regieassistenz: Sandra Christmann
Administration: Sabine Lückmann
Öffentlichkeitsarbeit: Ernst Merheim
Über die Produktion
„NOVEMBER 1918 * 1989“ ist der Titel eines in kollektiver Autorenschaft erstellten Theaterstücks des Theaters der Klänge über die deutsche Revolution von 1918 im Vergleich mit den Vorgängen in der DDR 1989.
Revolution – ein großes Thema, welches 1989 plötzlich miterlebbar wurde. Im Gegensatz zu den Ereignissen in der DDR 1989, war die Revolution von 1918 in Deutschland um 1990/91 fast in Vergessenheit geraten.
Das Theater der Klänge verglich 1991 die Verläufe der beiden Revolutionen miteinander in einer großen Theatercollage in vielen unterschiedlichsten Szenen, die immer wieder die einzelnen Phasen der Revolution von 1918 denen von 1989 gegenüberstellte.
Der historische Abriss von NOVEMBER beschäftigt sich dabei mit den Ereignissen von November 1917 (Revolution in Rußland) bis Frühjahr 1919 (Nationalversammlung in Weimar) genauso, wie mit dem Zeitabschnitt Mai 1989 (Abbau der ungarischen Grenzanlagen) bis März 1990 (Neuwahlen zur Volkskammer der DDR).
Schauspiel, Allegorie, Farce, Maskenimprovisation, Pantomime und Puppenspiel stehen dabei simultan Tanz und (Meyerholdscher) Biomechanik gegenüber. Dies eingebettet in eine live-elektronische Musik, welche von zwei Schlagzeugern gesteuert wird. Dazu Dokumentarfilmcollagen und Diaprojektionen. Das Ganze fand in einem umgestaltbaren Spielgerüst mit beweglichen Leinwänden statt. Das international besetzte Ensemble des Theaters der Klänge wurde darin zu einer modernen Komödiantentruppe, welche ihre Sicht der Vorgänge in einfachen, klar verständlichen Bildern und Spielszenen darstellt.
NOVEMBER war gleichzeitig der erste Versuch des Theaters der Klänge über eine selbstgewählte politische Thematik in kollektiver Autorenschaft ein Theaterstück zu erstellen. Die Erfahrungen der vorangegangenen Produktionen flossen dabei ein und versetzten das Ensemble des Theaters der Klänge in die Lage, zu jedem darzustellenden Sachverhalt eine eigene theatralische Form zu suchen, die für die jeweilige Aussage das treffendste Bild lieferte.
NOVEMBER entstand 1991 als erste Koproduktion mit dem Bauhaus Dessau und wurde sowohl in Düsseldorf, als auch in Dessau insgesamt 19 mal aufgeführt. Das 1991 gebildete Ensemble für dieses Stück war das erste, welches unter professionellen Bedingungen im 1991 bezogenen Theater der Klänge Probenstudio in Düsseldorf-Pempelfort und zeitweise auch in der Bauhausbühne in Dessau arbeitete und in zahlreichen Abendsitzungen nach den Proben die Arbeitsgrundlagen eines kollektiven Ensembles diskutierte und festlegte. Zahlreiche Ensemblemitglieder aus diesem Jahr wurden feste Mitarbeiter für mehrere Produktionen in den frühen neunziger Jahren. Die Arbeitsgrundlagen aus dieser Zeit bilden in vielen Punkten bis heute immer noch unsere Arbeitsweise.
November 1918*1989 in der Presse
Das Theater der Klänge ist eine freie Gruppe mit außerordentlich hoch entwickelten Sinn für Stil. Ihnen fehlt das verschwitzte Pathos der anderen freien Gruppen völlig. Sie imitieren jeden Stil so perfekt, als ob sie ihn neu erfänden. Diesmal hat das „Theater der Klänge“ das Agitprop-Theater der zwanziger Jahre auferstehen lassen und es mit neuen technischen Medien und raffinierten Geräuschkompositionen angereichert. Wiederum: wunderbar perfekt. Kurz vor Schluß kommt die Nachricht von der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs in eine optimistische Sozialistenrunde. Die Trauer, die dann folgt, ist pathetisch ernst. Die Internationale wird nur noch melancholisch weitergesummt. Beim Schlußapplaus greift die elektroakustische Musik das Thema auf, variiert es, halb traurig, halb heiter. Unwillkürlich summt man mit, und beim Hinausgehen pfeifen viele die Internationale vor sich hin. So ist die Stilkopie komplett.
Die Tageszeitung
Zum authentischen Fundus an Gesprochenem, Gedrucktem, Gefilmtem und in heutiger Zeit elektronisch Aufgezeichnetem trat die phantasievoll stilisierte eigene Erfindung, oft Quintessenz aus eigenen Gesprächen mit Augenzeugen, die während der Vorbereitung auf die „November“-Produktion auch in Dessau geführt wurden. Im Ergebnis gerade dieser Kontakte „vor Ort“ glückte den Düsseldorfern eine Handvoll Typen-Portraits von Deutschen, wie man ihnen in solch praller, grotesker Wahhaftigkeit auf Theater- und Kabarettbühnen in den Jahren seit 1989 sonst kaum begegnete. Stark in der Wirkung auch einzelne szenische Metaphern: Tanz und Aufbruchsversuch der Utopie, die immer wieder gezügelt (oder pro Forma angestachelt) wird vom ‚langen Arm‘ der Administration; das ganze Bewegungsbild im bitteren Kontrast zu den Hoffnungsworten Stefan Heyms am 4. November ’89 auf dem Berliner Alexanderplatz. Oder: Die schrittweise Demontage und Beschmutzung eines Arbeiterdenkmals durch jene, die zuvor ihren Helden monumental flankiert haben.
Mitteldeutsche Zeitung
Unter der Regie von Jörg U. Lensing greift das Ensemble, daß das Stück in Zusammenarbeit mit dem Bauhaus Dessau inszeniert hat, die Traditionen der Arbeitertheaters der zwanziger Jahre auf, ohne ihnen jedoch ganz zu verfallen. So bleibt in den fast drei Stunden noch Raum genug für Kabarett, Groteske und Clownerie, meist dann, wenn die 89er Revolution aufs Korn genommen wird. Lebendiger und farbiger kann man die Historie kaum „Revue“ passieren lassen, drei Pflichtstunden nicht nur für die Geschichtskurse der Oberstufe.
Westdeutsche Zeitung