1988 wandten wir uns nach dem Gründungsauftakt mit der „Mechanischen Bauhausbühne“, also unserer ersten Beschäftigung mit dem Theater der 1920er Jahre einer älteren, vorbürgerlichen Theaterform zu: Dem barocken Musik- und Tanztheater. Da im Barock in den romanischen Ländern die Commedia dell´Arte eine große Rolle im Straßentheater, aber eben auch im höfischen Theater spielte, nahmen wir das überlieferte Kompendium „Die neue und curieuse theatralische Tantz-Schul“ des italienischen Tanzmeisters Gregorio Lambranzi aus dem 18. Jahrhundert zur Vorlage daraus ein eigenes Stück zu entwickeln in dem Maskenspiel, barocke Tänze, Live-Musik und revuehafte Szenenfolgen einen „anderen“ Musik- und Tanztheateransatz ermöglichten.
Das Stück wurde 1988/89 in einem aufwändigen Probenprozess entwickelt und im Laufe der Jahre bis 1995 in mehren Versionen und wechselnden Besetzungen immer wieder umgeformt und weiterentwickelt. Dabei wurde für die jeweils neuen Versionen die barocke Praxis der Versatzstücke und Lazzi verwendet, welche es den Theaterprinzipalen im Barock ermöglichte pro Ort, manchmal pro Aufführung neue Programmabläufe aus Versatzstücken zusammenzustellen.
Alle unsere Versionen wurden per Video dokumentiert. Wir zeigen von Donnerstag, 2. bis Sonntag, 5. April 2020 im Programm „Theater auf Abruf“ die finale fünfte Version, welche im Zeitraum von 5. bis 9. Juli 1995 im Spee´schen Garten Düsseldorf unter besten Wetterbedingungen eine begeisternde Open Air en Suite Serie erlebte. Um einen Eindruck zu den vorangegangenen Versionen und zur Entwicklungsarbeit zu bekommen, sind Interviews mit den Mitwirkenden der ersten Version, sowie Ausschnitte aus den vorangegangenen Versionen zu sehen, bevor der Mitschnitt der fünften Fassung (1995) in voller Länge zu sehen und zu hören ist.
Die barocke Maskenbühne
Lambranzis Werk behandelt die Vermischung der unterschiedlichen Theaterformen seiner Zeit, die hauptsächlich dadurch definiert sind, daß es eine Trennung von Musik, Tanz und Schauspiel noch nicht gab. Basierend auf der Musik und den Tänzen seiner Zeit, wie sie zum einen beim Volk, zum anderen bei Hofe gepflegt wurden, entwirft er in 100 Stichen einen szenischen Katalog, der sowohl die Stände-, Berufs- und Theatertypen seiner Zeit, als auch höfische Tänzer und skurrile Figuren in szenisch-tänzerischen Sequenzen festhält.
Von diesen Stichen und der damit verbundenen barocken Ästhetik inspiriert hat das Theater der Klänge die Tänzer- und Komödiantentruppe Lambranzis wieder auferstehen lassen, um in einer Zusammenstellung von höfisch-barocken Tänzen, Volkstänzen, Tanzparodien, Maskenspiel und der Theaterfigur Lambranzis (sowie seiner Frau) ein Sittengemälde des spätbarocken Tanz- und Musiktheaters zu zeichnen.
Dieses Theater ist bestimmt durch eine halboffene Wanderbühnenkonstruktion, eine Lichtgebung mit Kerzenlicht, opulente Kostüme, Commedia dell’Arte Figuren, eine eigene Theater- und Tanzmusik und eine Inszenierung, in der die Körpersprache das gesprochene Wort weitgehend überflüssig macht.
Die barocke Maskenbühne, erstellt in kollektiver Zusammenarbeit der Ensemblemitglieder des Theaters der Klänge und in Autorenschaft von Jörg Lensing, ist dabei keine Rekonstruktion alten Theaters, sondern vielmehr eine Beschäftigung mit einer anderen, nicht literarischen und damit vorbürgerlichen Form von Theater. In der Neu-Komposition der Musik, Neu-Choreographie der Tänze und Neu-Inszenierung des gesamten Stoffes handelt es sich bei der „barocken“ Maskenbühne um ein zeitgenössisches Theaterstück, das sich durch die Masken des Barock bis heute als künstlerische Herausforderung und Prüfstein der Möglichkeit eines „anderen“ Theaters auf der Grundlage einer verschütteten Tradition erweist.
Aus diesem Grund hat die barocke Maskenbühne seit 1989 bisher 5 verschiedene Fassungen erlebt, die mit den Masken, Kostümen und szenischen Ideen von Gregorio Lambranzi immer so verfuhren, wie dies auch in der historischen Commedia dell’Arte der Fall war. Jedes für jede Neufassung neu gebildete Ensemble improvisierte mit den vorgefundenen Materialien, Figuren, Lazzi und Tänzen (und Stichen), so daß aus jeder Improvisationsphase eine neue Fassung auf der Grundlage des gleichen ästhetischen Rahmens erstellt werden konnte.
Die Arbeit mit den Masken der Commedia dell’Arte war von 1988 bis 1999 fester Bestandteil im Theater der Klänge und wurde zeitweise als Prüfungs- und Ausbildungsgrundlage für Ensembleneuzugänge eingesetzt.
Die 5 verschiedenen Fassungen, sowie eine Straßentheaterfassung für das „Festival d´Avignon“ im Jahr 1993 erlebten insgesamt 55 Aufführungen an 7 verschiedenen Orten und wurden von ca. 10000 Zuschauern gesehen. Die Maskenarbeit mündete 1994/98 in die Erstellung einer zeitgenössischen Eigenkreation unter dem Titel „Reden ist Silber…“, sowie 1999 in der Figur des Harlekin/Hans-Wurst im Stück „Die Neuberin“.
Das Theater der Klänge verfügt durch diese mehr als zehnjährige Arbeit mit den unterschiedlichsten Maskentypen über eine entsprechend große Sammlung von mehreren hundert Masken, die die Gruppen Commedia dell´Arte, Expressivmasken, bis hin zu balinesischen Tanzmasken umfaßt.